Der beste Beruf in einem wunderbaren Orchester

Schon wieder ein Abschied! Ralf Schippmann, stellvertretender Solooboer im MDR-SINFONIEORCHESTER, wird am kommenden Sonntag im Gewandhaus in den Ruhestand verabschiedet. Wir durften ein paar Fragen stellen..

Lieber Ralf, oder nein, eigentlich lieber Schippi, denn warum sollte ich dich jetzt anders ansprechen als in all den vielen Jahren, in denen wir gemeinsam in der Holzgruppe spielten, du natürlich viel länger als ich, aber die letzten 30 Jahre (so lange kenne ich dich) sind ja auch nicht wenig… du wirst dich Ende Mai in den Ruhestand verabschieden. Ich kann es kaum glauben und komme mir nun langsam alt vor. Du warst in all den Jahren als stellvertretender Solo-Oboist an vielen Stellen zu finden, übernahmst vertretungsweise oft die Solo-Position. Wann kamst du ins Orchester, wie fandest du es vor und wie kam es zu all dieser Abwechslung?

Das Orchester kenne ich seit meiner Rostocker Kindheit, zumindest aus dem Radio. Meine Mutter, die in Leipzig Musik studiert hatte, hörte sehr gern die Live-Übertragungen aus der Kongresshalle, und da das Radio im Wohnzimmer stand, hörten alle mit. Wir empfanden es damals als aufregend, mit der musikalischen Welt direkt verbunden zu sein.

So fing alles an…

Mein erster Konzertbesuch als Student in Leipzig war dann in der Kongresshalle die legendäre „Moses und Aaron“-Aufführung unseres Orchesters unter Herbert Kegel am 24.2.1976. Das war sehr beeindruckend, aber ehrlich gesagt, diese Musik war damals ziemlich fremd für mich. Auf Anregung meines damaligen Kommilitonen und späteres Kollegen Dietmar Wittig erwarb ich ein Anrecht für die Rundfunk-Konzerte, damals kosteten alle 12 Konzerte zusammen 12,60 Mark. Und die Karten waren übertragbar: Durch einen kleinen, allgemein angewendeten Trick konnte oft die halbe Hochschule kostenlos die Konzerte oben im Rang der Kongresshalle erleben. Der Rundfunk drückte ein Auge zu. 

Nach dem Studium folgte das erste Engagement an der Musikalischen Komödie in Leipzig, dort lernte und erlebte ich viel Neues, was eine Hochschule nicht lehrt. Der Spielplan damals umfasste ungefähr 15 Operetten und Musicals, die oft aus schlecht lesbaren Noten vom Blatt gespielt werden mussten, und es dauerte trotz Übens schon 2-3 Vorstellungen, bis man sicher wusste, wo es langgeht…

1982 gewann ich das Probespiel im Rundfunk-Sinfonie-Orchester Leipzig um die Stelle meines ehemaligen Lehrers Jürgen Dietze, er wiederum hatte die Soloposition unseres gemeinsamen Lehrers Burkhard Glaetzner eingenommen. Die Solo-Position habe ich nur interimistisch eingenommen, als unser verdienstvoller Kollege Fritz Schneider aus gesundheitlichen Gründen für ein paar Jahre von der 1. Oboe zurücktreten wollte.

Aus Rostock nach Sachsen. Wie kam es dazu, dass du als gebürtiger Rostocker in Leipzig landetest? Wird es dich nun zurück an die See ziehen oder wirst du in Sachsen bleiben? 

Meine Heimatstadt ist wunderschön, ohne Frage. Aber die für mich wichtige „klassische“ Musik spielt in Mecklenburg allgemein nicht so die Rolle wie in Sachsen und ganz besonders in der Musikstadt Leipzig. Zum Beispiel: Das Rostocker Theater, in dem mein Großvater Bühnenmeister war, wurde 1942 durch Bomben zerstört und seither (!) plant man einen Neubau und spielt in Behelfslösungen. Die Musikhochschule dort ist sehr gut, wurde aber erst nach der Wende gegründet. So studierte ich in Leipzig, einer Stadt, die ich oft besucht hatte. Berlin wäre näher gewesen, aber die ständige Präsenz der Grenze und die überall zu vermutenden „Angehörigen der bewaffneten Organe der DDR“ störten mich. Außerdem hatte ich in Leipzig eine sehr gemütliche Studentenbude gemietet, die später unsere erste Wohnung wurde. 

Und solange hier nicht die AfD regiert, werde ich wohl in Sachsen bleiben.

Die Oboe zählt zu den arbeitsaufwändigsten Instrumenten. Es müssen immerzu Rohre gebaut werden, man ist sehr wetterabhängig, ob das „gute“ Rohr auch so mitmacht, wie man sich das vorstellt. Wie kam es dazu, dass du dir dieses Instrument ausgesucht hast und wie bist du mit all diesen Dingen in deinem Berufsleben umgegangen?

Das habe ich am Anfang nicht gewusst! In meiner Familie spielte das Klavier eine große Rolle: Meine Eltern musizierten auf sehr unterschiedliche Weise: Meine Vater, ohne eine Note lesen zu können (worauf er stolz war), konnte stundenlang alte Schlager und Filmmusiken spielen, während meine Mutter eine klassische Klavierausbildung hatte und sich auch um die meine kümmerte. Für einen Pianisten fehlten mir als Kind aber Fleiß und Ausdauer und so wollte ich ein anderes Instrument lernen. Als 10-Jähriger ist man aber zu alt für die Ausbildung auf einem Streichinstrument: Das Konservatorium Rostock bot mir Oboe oder Fagott an,  weil diese Stimmen bald im Jugend-Sinfonie-Orchester fehlen würden. Ich wählte aus Platzgründen die Oboe und bekam ein Instrument ausgeliehen. Das baute ich noch vor dem ersten Unterricht zusammen, es kam aber trotz kräftigem oder vorsichtigem Hineinblasen kein Ton heraus. In der ersten Oboenstunde lernte ich dann vom Herrn Kammervirtuosen Carlo Reißig, dass ein Mundstück zur Oboe gehört, ansonsten bog er die Klappen wieder zurück und zeigte mir, wie man eine Oboe zusammenbauen sollte. Er war ein geduldiger und erfahrener Lehrer und setzte mir nach ein paar Jahren den Floh ins Ohr, Oboist zu werden. Nachdem ich mit diesem Berufswunsch meine Eltern leicht schockiert und in Leipzig die Aufnahmeprüfung an der Hochschule bestanden hatte, wurde es ernst. Auch mit dem Rohrbau…

Ein gescheiterter Versuch, für das Kinderfernsehen etwas über Musikinstrumente zu produzieren

Der Oboist ist ein krisengeschüttelter Mensch, entweder hat er eine Rohrbau- oder eine Üb-krise. Die Lösung ist einfach: Geht es mit den Rohren nicht, musst Du mehr und besser üben, geht es mit dem Üben nicht, musst Du mehr und bessere Rohre bauen. So ist der Oboist immer beschäftigt, immer ein bisschen gestresst, nie so recht vor dem Konzert und erst danach manchmal richtig glücklich.

Thema Rohrbau

Was bleibt dir aus der Zeit im MDR-SINFONIEORCHESTER besonders in Erinnerung?

Da hat sich in 40 Jahren viel angesammelt. Neben der Arbeit in Leipzig mit oft sehr interessanten Konzerten sind es auch die Konzertreisen:  Die vielen großen und wunderbaren Konzertsäle in Europa und Asien, die weltbekannten und fantastischen Solisten, mit denen wir auch auf Reisen waren und so manch ein genialer Dirigent sind in Erinnerung geblieben. Oder andererseits: Die anstrengenden Schallplatten-Aufnahmen in der Paul-Gerhard-Kirche: In 4 Stunden Aufnahmezeit wurden manchmal nicht einmal 20 Minuten Musik fertig. Oder das „zusammen-auf-einer-Bühne-sein“ mit dem Papst oder Michail Gorbatschow. Ich kann nicht alles aufzählen, aber ich hoffe, dass das Orchesterleben auch in Zukunft so interessant und abwechslungsreich sein möge.

Eine besondere Zeit war auch die „Wende“. Allen Mitarbeitern des Rundfunks der DDR wurde gekündigt, auch allen Klangkörpern. Unser Orchester und der Chor wurden dann wieder übernommen, aber nicht alle „Rundfunk-Musiker“ wurden wieder eingestellt. Ich war damals der erste frei gewählte Chef des Vorstandes, wir hatten sehr, sehr viel zu tun, es gab keine staatliche oder künstlerische Leitung mehr. Es ist uns (auch mit Hilfe der Bild-Zeitung und der LVZ) gelungen, vielen Kollegen aus dem Großen Rundfunkorchester den Arbeitsplatz zu erhalten. Wir haben als Vorstand Konzerte organisiert, uns um einen neuen Manager bemüht, nach Chefdirigenten gesucht (und leider einen gefunden), mit Konzertagenturen und Schallplattenfirmen verhandelt, Kontakte zur DOV und zu den anderen Rundfunkorchesters aufgenommen, eine Orchester- und eine Probespiel-Ordnung ausgearbeitet usw. Eine kleine Sammlung von dazu gehörigen Dokumenten habe ich gerade dem Orchester-Archiv übergeben. 

Ralf Schippmann – Einzelfoto für den MDR (Christiane Höhne)

Viele Dirigenten und Chefdirigenten erlebtest du in deinem Leben. Was war dir lieber: ein fordernder, sehr genau von seinen Vorstellungen geprägter Stil oder eher ein gemeinsam gestaltender, bis zum Ende überraschender?

Wenn ich mal nachzähle, sind in meinen 50 Orchester-Jahren wohl fast eintausend Menschen gewesen, die sich mit oder ohne Taktstock in der Hand vor mich hingestellt haben, und mancher hat nur gefuchtelt. Ich habe es selbst nie versucht, aber ich glaube, es ist sehr schwer, ein guter Dirigent und ein wirklicher „primus inter pares“ zu sein. Ein Orchester unserer Qualität muss nicht erzogen werden, sondern angeleitet und geführt. Denn wir selbst wollen auf höchstem Niveau musizieren, diesen Anspruch haben wir und auch die Disziplin. Aber zurück zur Frage: Fordern kann und sollte ein Dirigent, dass wir seinen Vorstellungen folgen – aber hat er immer Recht, oder anders, wo ist und wer hat die musikalische Wahrheit? Ich denke bei dieser Frage zum Beispiel an die Temposchwankungen bei der Interpretation Bach´scher Werke, die ich in den Jahren erlebt habe. Eine gemeinsame Gestaltung der Werke ist sicher einer Diktatur vorzuziehen, das Musizieren ist dann beglückender. Aber Dirigenten, die anders als in den Proben plötzlich im Konzert überraschen, mag ich nicht so besonders, das klappt nur selten, sondern klappert eher.   

MDR-Musiksommer in Magdeburg

Welche Konzerterlebnisse werden dir besonders in Erinnerung bleiben?

Die beiden Uraufführen der Oboenkonzerte, die mir gewidmet waren, und die ich mit dem Leipziger Bachorchester realisiert habe. Überhaupt die Solo-Konzerte, weil man da wie in der Kammermusik mehr Künstler oder Man-selbst ist als in der Rolle eines Orchester-Musikers. Ich behaupte, es gibt drei Möglichkeiten, Oboe zu spielen: Die glücklichste als Kammermusiker oder Konzertsolist,  die risikoreichste als 1. Oboist im Orchester oder die frustrierende als 2. Oboer, der sich meist verstecken muss. Und das noch mit einem Instrument, was sich tonlich kaum verstecken lässt. 

Als Solist mit dem Bachorchester

Du warst auf Konzertreisen immer jemand, mit dem man „stadtstreunern“ gehen konnte, du warst neugierig auf alles. Was war das Kurioseste, Interessanteste, was dir begegnete?

Das beeindruckendste war die erste Reise in die Bundesrepublik, ich war damals 27 Jahre alt. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, jenes Staunen, dass das Land hinter dem Grenzübergang Marienborn genauso aussieht, wie die Felder und Wiesen und Wälder in der DDR, und das man ohne diesen albernen Stempel im Pass gerade eben und an dieser Stelle erschossen worden wäre. Aber dort dann die Innenstädte und die Einkaufsmöglichkeiten sahen natürlich schon anders aus…

Die Leipziger Kammersolisten

Wir kennen dich als leidenschaftlichen Kammermusiker, viele Jahre organisiertest du die Kammerkonzerte im Gohliser Schlösschen, bei dem immer wieder Ensembles aus unserem Orchester auftraten, oft auch mit dir selbst und deiner Frau Magdalena (Anmerkung für die Leser: sie ist Flötistin) als Teil wunderbar vielfältiger Programme, die du gewitzt-interessant moderiertest. Wirst du diese Leidenschaft fortsetzen oder wirst du diese Aufgabe an jemanden „vererben“? 

In über 25 Jahre waren es weit mehr als 250 Konzerte in Gohlis, die wir initiiert haben. Wir haben sehr davon profitiert, da wir fast alle gehört haben. Die Kollegen haben sich jene Stücke für die Konzerte ausgesucht, die sie selbst gern spielen würden, wir haben dadurch viel Musik und unsere Kollegen als großartige Kammermusiker kennengelernt. Jetzt wächst eine neue Generation im Orchester heran, die sicherlich den zur Kammermusik notwendigen Idealismus aufbringt. Und da ich nicht mehr täglich im Dienst erreichbar bin, werden sich jetzt die Kolleginnen und Kollegen an den Pianisten Prof. Heiko Reintzsch wenden, um im Schlößchen im Rahmen der Bürgerkonzerte auftreten zu können. Denn er hat dankenswerter Weise meine und unsere Funktion übernommen. Aber in die Konzerte kommen werden wir möglichst immer.

Mit unserem Kammerorchester im Barockgarten des Gohliser Schlößchens

Hattest du überhaupt Zeit, auch andere Leidenschaften neben all diesem #MusikERleben zu pflegen? Und wenn ja, welche?

Wie sehr die Musik mein eigenes und unser Familienleben bestimmt hat, wird mir jetzt besonders klar, wo das Berufsleben altersbedingt zu Ende geht und man solche und ähnliche Fragen häufig gestellt bekommt. Ja, unsere Kinder waren ein weiterer Lebensmittelpunkt, jetzt sind sie erwachsen. Die Pflege der Eltern war in den letzten Jahren ein wichtiges Thema. Und ein paar kleinere Hobbys haben natürlich auch ein Eckchen gefunden. 

Wie hast du dich all die Jahre motiviert gehalten? Was gibst du jungen Kolleg:innen mit auf den Weg, um eine Orchesterstelle ein Leben lang auszufüllen?

Immer wieder lerne ich: Die Musik ist eine Welt für sich. Je mehr man sich damit beschäftigt, umso mehr tun sich weitere Räume auf. Zum Beispiel: Hinter jeder Biographie eines Komponisten stehen Querverbindungen zu anderen Musikern, zu Fürstenhäusern, Opernhäusern, zu politischen Ereignissen, zu philosophischen Ansichten und Irrtümern, zu religiösen Ideen, zur Entwicklung von Musikinstrumenten, die Fragen von Genie oder Protektion. Je mehr man darüber weiß, umso mehr Fragen tun sich auf. Es ist eine lebenslange, interessante und beglückende Aufgabe, sich mit Musik zu beschäftigen, und man wird nie an ein Ende kommen.

Unterwegs für Clara-Projekte

Außerdem:  Ein Orchester und ein Chor sind die einzigen mir bekannten sozialen Formen, in der sich bis zu 100 Menschen zusammenfinden, um gemeinsam temporär etwas Schönes zu erzeugen, um tausenden anderen Freude zu vermitteln. Wenn man da in seinem Leben mit beteiligt ist, ist es ein Glück. Und als Künstler sozial abgesichert zu sein, ist genauso ein Glücksfall für jeden.  

Und bitte nicht vergessen bei allem täglichen Frust: Wir haben den besten Beruf in einem wunderbaren Orchester.

3 Antworten auf „Der beste Beruf in einem wunderbaren Orchester

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  1. Ein großes Dankeschön, Herr Schippmann, gern erinnere ich mich an die herrlichen Konzerte für die Lebenshilfe Leipzig.

    Alles Gute für die kommende Zeit, neue Dinge und Aufgaben warten auf Sie.

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  2. Schönes Interview mit einem der intelligentesten und reflektiertesten, dabei aber immer humorvollem Musiker (beides zusammen kommt nicht sooo oft vor….) unseres Orchesters. Alles Gute, Schippi!

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