Das Geländer zum Festhalten

Am 28. April 2024 verabschiedet sich Anna Niebuhr aus dem aktiven Orchesterdienst in den Ruhestand. Inzwischen ist es schöne Tradition, hier noch einmal Rückblick auf viele Jahre OrchestermusikERleben zu halten.

Anna Niebuhr – Foto: Adam Markowski

Liebe Anna, seit ich 1994 ins Orchester kam, bist du für mich DER ruhende Pol im Orchester. Immer ausgleichend, egal wie hoch die Wellen manchmal schlugen, immer beruhigend und doch bestimmt und klar in allen Ansagen und Handlungen. Ein Vorbild! Bis heute und sicher mein Leben lang, ich bewunderte dich damals, wie du es schafftest, als Mutter von vier Kindern und sicherlich einigem Tohuwabohu so viel zu stemmen. Denn du bist nicht nur im Orchester gefühlt immer da, sondern auch als Kammermusikerin und Lehrerin sehr aktiv. Nun willst du dich in den Ruhestand verabschieden? Ich kann es noch gar nicht glauben, du wirst mir im Orchester fehlen. 

Wann kamst du ins MDR-Sinfonieorchester und wie fandest du das Orchester vor?

Ich begann 1981 im Großen Rundfunkorchester und wechselte 1983 ins damalige Rundfunksinfonieorchester Leipzig. Damals arbeiteten noch mehrheitlich Männer in den Orchestern, ich war die erste Frau in der Cellogruppe. Wolf- Dieter Hauschild war unser Chefdirigent und das Orchester spielte auf hohem Niveau. Es hatte in Leipzigs Musikleben seinen festen Platz mit Sinfoniekonzerten im damals noch neuen Gewandhaus. Eine sehr schöne Kammermusikreihe gab es im Alten Rathaus, dort konnte ich als Mitglied des Hartmann-Quartettes und anderer Ensembles oft auftreten, was mir sehr viel bedeutete. Zu den Aufgaben des Orchesters gehörte auch die zeitgenössische Musik, zahlreiche Aufnahmen, Schülerkonzerte. Aber auch Gastspiele im In-und Ausland fanden regelmäßig statt, zum Beispiel nach Berlin, Dresden, Italien, Japan, Leningrad, Estland, Belgien und nicht zu vergessen ins damalige „Westdeutschland“.

Mit der „Wende“ 1989 gingen viele Veränderungen einher, nicht alle Klangkörper wurden von der ARD übernommen und zahlreiche Musiker verloren ihre Arbeit. Unser Orchester hatte Glück und wurde mit dem Großen Rundfunkorchester vereinigt und als „MDR- Sinfonieorchester“ auf den Weg gebracht.

Nach einem Konzert in Görlitz im MDR-Musiksommer 2023 mit Chefdirigent Dennis Russell Davies beim Schlussapplaus.

Als Tochter eines berühmten Vaters war es
sicher nicht immer leicht, allen Anforderungen gerecht zu werden, auch er stand bei uns am Pult, wie war das für dich? War es eher Last oder Freude?

Mein Vater Rolf Reuter stand vor und nach der Wende häufig bei uns am Pult und ich bin heute sehr dankbar, daß ich wunderbare Konzerte unter ihm spielen durfte. Besonders gern erinnere ich mich an Beethovens „Eroica“ und verschiedene Bruckner- Sinfonien. Natürlich ist es für mich als Musikerin stets auch aufregend gewesen, im Spannungsfeld „Orchester- Dirigent“ als Tochter mittendrin zu sein.

Du hast in deiner Orchesterzeit sehr, sehr viele Werke gespielt. Was waren deine Favoriten? Welches Repertoire hast du besonders gern gespielt?

Ja – Favoriten und Lieblingsstücke habe ich ganz viele…

Die große Symphonik wie Brahms, Beethoven, Strauß, Mahler, Tschaikowski, Schostakowitsch, um nur einige zu nennen, habe ich selbstverständlich immer geliebt und gern gespielt. Ihretwegen bin ich gern Orchestermusikerin. Aber ich hatte auch immer eine große Leidenschaft für Bach, zu Kirchenmusik mit ihren großen Oratorien unterschiedlichster Epochen und Komponisten. Auch zeitgenössische Kompositionen haben mich oft berührt.

Vermisst habe ich in unserem Orchester die Oper, da ich das Kind einer Opernsängerin und eines Operndirigenten bin. Wir haben ab und zu konzertant Opern aufgeführt, das hatte ich dann stets genossen.

Viele Dirigenten erlebtest du, Chefdirigenten und Gastdirigenten. Mochtest du eher autoritäre Dirigenten, die alles bis ins Detail absprachen und dann lief das Konzert wie am Schnürchen oder warst du eher begeistert von nicht so festgelegten Dirigenten, bei denen es am Abend manchmal sehr spannend wurde, da vieles im Fluss entstand? Wer bleibt bei dir besonders in Erinnerung?

Dirigenten sind, wie Menschen, immer sehr verschieden. Manche sichern in den Proben alles ab, andere sind musikalisch eher spontan. Ich habe mich bemüht, während der Proben offen zu bleiben – oft wurden dann gute Konzerte daraus.

Anna Niebuhr am ersten Pult der Cellogruppe auch morgens 6 Uhr hochkonzentriert bei der MDR-Jump-Morningshow, die 2022 einmalig live mit Orchesterbegleitung aller Jingles und einigen Stars aus dem Orchestersaal am Augustusplatz gestreamt wurde.

Gibt es ein paar besondere Höhepunkte, von denen du erzählen möchtest?

Ja, es gab mein ganzes Berufsleben über immer wieder musikalische Höhepunkte unter hervorragenden Dirigenten, zu wichtigen Anlässen und in herrlichen Konzertsälen. Zuletzt war es für mich das Festkonzert am 3. März 2024 im Leipziger Gewandhaus unter unserem Chefdirigenten Dennis Russell Davies mit Musik von Ives, Schönberg und Beethoven.

Im Probensaal am Augustusplatz mit Chefdirigent Dennis Russell Davies.

Wo steht für dich der beste Konzertsaal, in dem du spieltest? Welche Säle sind dir schmeichelnd in Erinnerung geblieben oder welches Publikum als besonders herzlich?

Einen der besten Konzertsäle der Welt, vielleicht DEN besten, haben wir mit dem Gewandhaus in Leipzig. Es spielt sich darin sehr gut, tatsächlich „schmeichelt“ er dem Interpreten und die Leute, das Publikum, erleben einen „Ohrenschmaus“. Alle Dirigenten und Solisten der Welt möchten in diesem Saal musizieren.

Ähnlich verhält es sich mit der Berliner Philharmonie, und natürlich ist der Wiener Konzertvereinssaal ganz einzigartig, schon wegen seiner großen Tradition.

In der Kölner Philharmonie ist es auch immer schön, es spielt sich gut und das Publikum verhält sich hinreißend.

…auch ein Konzertsaal… Anna Niebuhr und Ekkehard Vogler kurz vor einem „virtuellen mdrCLARA-Streamingkonzert“ während der Coronazeit direkt aus einem Konferenzraum im Hochhaus am Augustusplatz.

Was war für dich das kurioseste Erlebnis bei einem Konzert?

Kurz nach der Wiedervereinigung hatten wir im Gewandhaus ein Konzert, unter anderem stand ein Violinkonzert mit einem berühmten Geiger auf dem Programm. Früh in der Generalprobe am Tag des Konzerts war der Solist des Abends erkrankt, hatte abgesagt. Was tun in dieser Situation? Zaghaft wurde ins Orchester hinein gefragt“ „Ist jemand in der Lage, als Solist einzuspringen?“ Unsere Solocellistin Sybille Hesselbarth überlegte kurz, holte tief Luft und antwortete: Ich könnte das C- Dur- Cellokonzert von Haydn spielen“.
Und dann spielte sie am Abend als Solistin ganz hervorragend und ohne jeden Makel dieses Konzert. Es war wunderschön.

Zu solch einer Leistung sind nur ganz wenige Menschen in der Lage und dies auch nur ganz selten. Ich werde es niemals vergessen.

Gab es auch schlimme Momente, in denen du am liebsten in der Erde versunken wärst?

Schlimm kann ich es nicht nennen, aber unangenehm fand ich es, wenn ich unerwartet für erkrankte Solocellisten einspringen sollte, ein Umstand, der mit der Stelle des „Stellvertreters“ einhergeht, man muss „vertreten“. Da mir meine Cellokollegen in diesen Situationen aber immer Mut gemacht und mich unterstützt haben, fand alles meist ein gutes Ende.

An dieser Stelle möchte ich auch erwähnen, wie wunderbar ich das Musizieren in dieser Cellogruppe stets empfunden habe: eines Sinnes im Geiste der Musik, ohne Worte darauf aus, zu einem Klang zu verschmelzen. Danke.

Anna Niebuhr spielte hier gemeinsam mit Liv Bartels bei einer Jahreshauptversammlung unseres Vereins. Sie findet immer wieder Stücke, die jeden überraschen, hier zum Beispiel ein Duo für Viola und Violoncello von Hans-Christian Bartel.

Gibt es Pläne für den Ruhestand? Wird es ein kreativer Unruhestand? Wird das Cello nun an den Nagel gehängt oder geht es musikalisch einfach ohne Orchesterdienst weiter?

Ich denke, das Cello wird noch nicht an den Nagel gehängt, es gibt immer mal wieder etwas zu musizieren, mit anderen oder allein. Im Kreise der Familie (drei meiner vier Kinder sind Musiker und viele Verwandte auch). Außerdem möchte ich auch für meine Schüler noch fit bleiben, die ich weiterhin unterrichten werde.

Kammermusik. Eine große Leidenschaft. Hier mit Katharina und Christian Sprenger, Adam Markowski und Schauspieler Günter Schoßböck bei einer Aufführung einer Kammervariante der „Zauberflöte“ in Nordhausen.

Gibt es Leidenschaften abseits des Cellospiels, die du im Rentnerdasein vertiefen möchtest?

Eigentlich gehört meine große Leidenschaft der Familie, meinem Mann und meinen vier Kindern. Da wird es genug Aufgaben für mich geben für die Zukunft.

Was gibst du jungen Kolleg:innen mit, die neu ins Orchester kommen und am Anfang Ihrer Orchesterlaufbahn stehen? Wie füllt man eine Orchesterstelle ein Leben lang aus und wie bleibt man immer weiter motiviert?

Ich habe großen Respekt vor unseren jungen Kollegen, vor ihrem Können und vor ihrer Ernsthaftigkeit. Ich wünsche ihnen allezeit Glück und Unterstützung für ihre musikalische Laufbahn.

Was junge und ältere Kollegen verbindet, ist die Liebe zur Musik. Sie ist der Antrieb für mich gewesen, in unruhigen Zeiten aber auch oft das Geländer zum Festhalten.

Alles Gute und vielen Dank für dieses Interview!

Nach dem Konzert…

Anna Niebuhr bekommt von Frau Dr. Kopp einen Blumenstrauß zum Abschied und wird von den Orchesterkolleg:innen und dem Publikum herzlich mit großem Beifall bedacht. Foto: Sebastian Hensel
Großer Beifall nach dem Konzert – Video: Sebastian Hensel

Eine Antwort auf „Das Geländer zum Festhalten

Add yours

Hinterlasse einen Kommentar

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑